Ob Handwerk, Metall- und Elektroindustrie, Gesundheits- und Pflegebranche, Kinderbetreuung oder MINT-Berufe in den Themenfeldern Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft und Technik: Viele Branchen suchen händeringend nach Fachkräften. Laut Bundesregierung sind fast zwei Millionen Stellen unbesetzt. Nach Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums betreffen die Engpässe 352 von 801 Berufsgruppen. Mit der Fachkräftestrategie will die Ampel zunächst das inländische Potenzial heben: So sollen mehr Frauen und Ältere arbeiten. Zusätzlich zielt das neue Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildung darauf ab, die Beschäftigten fit zu machen für die Transformation: etwa indem Unternehmen im Strukturwandel sie für eine Weiterqualifizierung freistellen können, während sie Qualifizierungsgeld als Lohnersatz erhalten. Darüber hinaus muss der deutsche Arbeitsmarkt aber auch attraktiver für ausländische Fachkräfte werden, um die wachsende Fachkräftelücke zu schließen, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Ende März hat das Bundeskabinett deshalb die Entwürfe für ein Gesetz sowie eine Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung beschlossen, die das Bundesinnenministerium sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegt hatten. Zugleich setzt die Bundesregierung mit der Reform die EU Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatenangehörigen zur Ausübung einer hoch qualifizierten Beschäftigung um. Sofern der Bundestag zustimmt, könnte das neue Gesetz noch in diesem Jahr in Kraft treten.
Reform stützt sich auf drei Säulen
Die Novellierung sieht drei Wege für die Erwerbsmigration vor:
- Qualifikation der Fachkräfte
Wie bisher verläuft der Königsweg für Fachkräfte aus Drittstaaten außerhalb der EU über einen in Deutschland anerkannten Abschluss, etwa über die EU Blue Card für Hochschulabsolventen. Neu ist aber: Wer einen anerkannten Abschluss mitbringt, kann künftig jede qualifizierte Beschäftigung ausüben. Die anerkannte Qualifikation muss nicht mehr der qualifizierten Beschäftigung entsprechen. Das verschafft Arbeitgebenden mehr Flexibilität, weil sie somit selbst einschätzen können, ob Einwandernde für eine Beschäftigung ausreichend qualifiziert sind. Zudem sollen Inhaber einer EU Blue Card den Arbeitgeber leichter wechseln können. IT-Spezialisten können künftig eine Blue Card erhalten, wenn sie zwar keinen Hochschulabschluss besitzen, aber bestimmte non-formale Qualifikationen nachweisen können. Die Mindestgehaltsschwelle für die Erteilung einer Blue Card wird auf 56,6 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt. - Berufserfahrung
Die Bundesregierung hat erkannt, dass die sehr langwierigen Anerkennungsverfahren für ausländische Berufsabschlüsse einen Flaschenhals für die Erwerbsmigration darstellen. In nicht reglementierten akademischen Berufen ist der Nachweis noch vergleichsweise einfach, weil ein internationaler Hochschulstandard Orientierungshilfe bietet. Als große Hürde für die Zuwanderung qualifzierter Fachkräfte erweist sich in der Praxis aber immer wieder das Anerkennungsverfahren für nicht-akademische Berufe. Dies allein schon deshalb, weil die deutsche duale Ausbildung international eine Ausnahme ist. Das macht es fast unmöglich, einen gleichwertigen Abschluss vorzulegen. Zwar können Erwerbsmigranten auch heute schon mit einer teilweisen Gleichwertigkeit des Abschlusses einreisen und die Qualifikation nachholen. Die Beantragung eines dafür passenden Aufenthaltstitels birgt aber einige Tücken für Unternehmen und erfordert sehr detaillierte Kenntnisse.
Um Abhilfe zu schaffen, sollen Erwerbskräfte künftig auch dann einwandern dürfen, wenn sie über mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen in der Heimat anerkannten Abschluss verfügen. In Zukunft entfällt also der Vergleich mit einem Referenzberuf in Deutschland. Voraussetzung ist allerdings: Das Gehalt muss mindestens 45 Prozent der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung betragen. Oder der Arbeitgeber muss tarifgebunden sein.
Über eine sogenannte Anerkennungspartnerschaft von Arbeitgeber und Fachkraft wird es künftig möglich, zuerst nach Deutschland einzureisen und einen Job anzutreten, noch bevor der Berufsabschluss in Deutschland anerkannt ist. Arbeitgebende können eine Fachkraft also schon beschäftigen, während diese parallel das berufliche Anerkennungsverfahren bei der Bundesagentur für Arbeit nachholt. - Chancenkarte und Punktesystem
Der dritte Weg legt den Fokus auf das Potenzial von Erwerbsmigrantinnen und -migranten bei der Jobsuche: Wer noch keinen Arbeitsvertrag in Deutschland vorweisen kann, bekommt mit der neuen Chancenkasrte künftig die Möglichkeit, bis zu einem Jahr vor Ort in Deutschland Arbeit zu suchen oder die ausländische Berufsqualifikation anerkennen zu lassen. Währenddessen kann er bis zu zwanzig Stunden pro Woche arbeiten oder für jeweils höchstens zwei Wochen bei einem potenziellen Arbeitgeber auf Probe arbeiten.
Wer eine Chancenkarte bekommt, hängt nach dem Vorbild von Einwanderungsländern wie Kanada von einem Punktesystem ab mit den Auswahlkriterien: ausländische Berufsqualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug etwa durch einen längeren Aufenthalt im Bundesgebiet sowie ein Alter von nicht mehr als 40 Jahren. Auch das Potenzial begleitender Ehegatten oder eingetragener Lebenspartner spielt eine Rolle. Weitere Voraussetzung: Der Lebensunterhalt muss gesichert sein.
Kurzzeitige Beschäftigung in Branchen mit großem Bedarf
Für Branchen mit besonders großem Bedarf sieht der Gesetzentwurf erstmals die Möglichkeit vor, ein Kontingent von Arbeitnehmenden aus Drittstaaten unabhängig von der Qualifikation für acht Monate zu beschäftigen. Das gilt aber nur, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden und wenn die Beschäfitigten vom ersten Tag sozialversichert sind.
Bewertung aus Sicht HR
Positiv zu bewerten ist, dass etwa im Rahmen der Anerkennungspartnerschaft die Einschätzung von Unternehmen mehr Gewicht bekommt, ob ein Zuwanderer ausreichend qualifiziert ist. Schließlich können sie am besten beurteilen, ob Jobprofil und Kenntnisse sowie Fähigkeiten eines Bewerbers aus dem Ausland zusammenpassen. Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, die nicht über eigene HR Expertise verfügen, werden die Formalitäten mit langen Verfahren und einer Vielzahl beteiligter Ämter wie Ausländerbehörden, Visastellen, Arbeitsagenturen und Botschaften weiterhin ein großes Hindernis für die Fachkräftegewinnung darstellen. Das gilt insbesondere, wenn Stellen unter hohem Zeitdruck zu besetzen sind. Hat ein Unternehmen einen passenden Bewerber gefunden, ist nicht selten schon bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung monatelang kein Visatermin zu bekommen. Umso unverständlicher ist, dass die Ampel die Reform nicht nutzt, um mit Hilfe der Zeitarbeit einen Weg zum deutschen Mittelstand zu bahnen. Sie könnte hier eine Vermittlerrolle übernehmen. Ihre positive Wirkung für die Integration von Flüchtlingen hat sie schließlich bereits erwiesen.
Die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes setzt an wichtigen Stellschrauben an, um Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver zu machen. Funktionieren wird dies aber nur, wenn auch die Einwanderungsbürokratie schneller und einfacher wird. Auch die letzte Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vom März 2020 zielte etwa mit dem beschleunigten Fachkräfteverfahren nach § 81a Aufenthaltsgesetz auf mehr Schnelligkeit ab. Verändert hat dies aber nur wenig. Dokumente werden häufig immer noch per Post hin- und hergeschickt. Es wird deshalb vor allem darauf ankommen, Abläufe zu digitalisieren und die Verwaltungsverfahren schneller, effizientier und serviceorientierter zu gestalten, um den Unternehmen in ihrer Personalnot zu helfen und für qualifizierte Fachkräfte als attraktives Einwanderungsland zu gelten. Spannende Fragen zum Thema beantworten wir für HR auch zum Hören im Podcast der Zeitschrift Arbeit und Arbeitsrecht.