EU-Richtlinie für Mindestlohn und Tarifbindung: Was kommt auf Arbeitgeber zu?

 Deutschland erfüllt Vorgaben zu Mindestlohn, aber nicht zu Tarifbindung.

EU-Richtlinie für Mindestlohn und Tarifbindung: Was kommt auf Arbeitgeber zu?

Kaum hatte der Bundestag Mitte Mai beschlossen, den Mindestlohn ab Oktober auf zwölf Euro pro Stunde zu erhöhen, vermeldet auch Brüssel Neuigkeiten zu diesem Thema. Anfang Juni haben sich Europäischer Rat, Kommission und Parlament auf eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne geeinigt, die zugleich auf eine Tarifbindung von mehr als 80 Prozent der Arbeitsverträge abzielt.

Eines der drei EU-Kernziele lautet, die Zahl der von Armut und Ausgrenzung bedrohten Menschen in den Mitgliedsstaaten bis 2030 um 15 Millionen zu reduzieren. In diesen Kontext fällt die neue EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne. Es bestehen aber große Zweifel, ob die neuen Regeln, die EU-Staaten und Europaparlament Anfang Juni beschlossen haben, dafür taugliche Instrumente bieten.

Keine einheitlichen Mindestlöhne, aber EU-weite Standards zur Überprüfung und Anpassung

Die EU-Mindestlohnrichtlinie zielt nicht auf einen EU-weiten Mindestlohn ab, sondern auf Standards, um diesen innerhalb bestimmter Zeitabstände zu erhöhen. Die Mitgliedsstaaten sollen dafür einen Verfahrensrahmen mit klaren Kriterien wie Kaufkraft, allgemeines Lohnniveau, Wachstumsrate der Löhne und Entwicklung der Arbeitsproduktivität schaffen. In Ländern mit einem gesetzlichen Mindestlohn wie Deutschland oder Frankreich soll dieser mindestens alle zwei Jahre steigen. Gibt es in einem Land einen automatischen Indexierungsmechanismus soll dies alle vier Jahre geschehen. Die Sozialpartner sind in das Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne einzubeziehen.

Die gute Nachricht lautet: Da deutsche Arbeitgeber infolge der Erhöhung auf zwölf Euro ab Oktober einen der höchsten Mindestlöhne in der EU bezahlen, hat die Richtlinie zunächst keine Konsequenzen, was die Höhe der Bezahlung angeht. Allerdings ist auch eine bessere Überwachung und Durchsetzung des Mindestlohnschutzes vorgesehen.

Erklärtes Ziel: 80 Prozent Tarifbindung

Gravierend sind die Auswirkungen der Neuregelung aber mit Blick auf die Tarifautonomie: Brüssel sieht Tarifverhandlungen als ein wichtiges Instrument für die Lohnfestsetzung an. Deshalb zielt die Richtlinie darauf ab, dass die Mitgliedsstaaten die Fähigkeit der Sozialpartner zur Aufnahme von Tarifverhandlungen stärken. Sofern die Tarifbindung unter einem Schwellenwert von 80 Prozent liegt, sollen die nationalen Regierungen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen aufstellen. Bislang erreicht Deutschland mit 43 Prozent Tarifbindung nur etwas mehr als die Hälfte der angestrebten Quote.

Allerdings stellt sich die Frage, ob Brüssel hier nicht seine Kompetenzen überschreitet. Schließlich ist die Tarifautonomie eine Säule der sozialen Marktwirtschaft, die sowohl Art . 28 der EU-Grundrechte-Charta als auch das Grundgesetz und andere nationale Verfassungen schützen. Nicht ohne Grund schließen auch die europäischen Verträge gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV die Zuständigkeit der EU für „das Arbeitsentgelt“ aus.

Rückenwind für Tariftreuegesetz von Bundesarbeitsminister Heil

Jedenfalls verschaffen die EU-Pläne Bundesarbeitsminister Hubertus Heil Rückenwind, der die Tarifbindung in Deutschland mit Hilfe eines Tariftreuegesetzes steigern will. Danach sollen öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen gehen, die Tariflohn zahlen.

Der Zeitpunkt für entsprechende Neuregelungen ist allerdings denkbar ungünstig: Deutsche Unternehmen ächzen unter den stark gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen. Noch ist völlig unklar, wie gravierend die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine sein werden. Statt mehr Fesseln brauchen Arbeitgeber jetzt umso mehr Flexibilität. Die Tarifbindung ist nur attraktiv, wenn sie Handlungsspielräume ermöglicht, die sich durch Tarifverträge mit Öffnungsklauseln und modularem Aufbau gestalten lassen. Eingriffe in die Autonomie der Sozialpartner sind gerade jetzt ein Irrweg. Ein Beleg dafür ist auch der Widerstand von Schweden und Dänemark gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie, obwohl das Lohnniveau und die Tarifbindung in beiden Ländern sehr hoch ist. Dort lösen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nahezu alle Aspekte der Arbeit in Tarifverhandlungen und die Regierungen verbitten sich Einmischung aus Brüssel in ihre Arbeitsmarktpolitik.

Keine sofortige Wirkung

EU-Parlament und Rat müssen Anfang Juni den vereinbarten Kompromiss noch formell bestätigen. Anschließend haben die EU-Länder zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht zu übertragen.

Angesichts der gerade erfolgten Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland bleibt die EU-Mindestlohnrichtlinie in dieser Hinsicht für Arbeitgeber vorerst folgenlos. Noch ist unklar, wie die Neueregelung konkret umgesetzt wird. Einen Hebel, um beispielsweise eine Tarifbindung von 80 Prozent durchzusetzen, besitzt Brüssel nicht. Zwar wird infolge der hohen Inflation vor allem bei Geringverdienern das Geld knapp. Doch verbessern sich gerade für Geringqualifizierte, Langzeitarbeitslose oder Menschen mit Vermittlungshindernissen die Perspektiven vor allem in Zeiten, in denen die Wirtschaft floriert. Sowohl den Unternehmen als auch den Menschen im Niedriglohnsektor helfen deshalb Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit verbessern, anstatt weiter einzuengen. Eine hohe Tarifbindung durch politische Vorgaben bringt deshalb letztlich wenig. Besser ist, diese über attraktive Tarifverträge der Sozialpartner zu erreichen. Ein Beleg dafür ist die Praxis in Dänemark und Schweden.