Crowdworking Teil 2: Arbeit der Zukunft oder neues Prekariat?

 EU will Rechte von Plattformarbeiter*innen stärken.

Crowdworking Teil 2: Arbeit der Zukunft oder neues Prekariat?

Anfang Dezember hat die EU-Kommission ein lange erwartetes Regelwerk für die Arbeitsbedingungen von Crowdworkern vorgelegt. Öffnet die Plattformökonomie das Tor zur Scheinselbständigkeit oder bietet sie die Flexibilität, die sich Beschäftigte wünschen und Arbeitgeber brauchen?

Die Plattformökonomie wächst rasant: Laut EU-Kommission arbeiten schon heute mehr als 28 Millionen Menschen in der EU für Internetplattformen, die ihnen per App Aufträge vermitteln. Im Jahr 2025 sollen es schon 43 Millionen sein. Darunter sind nicht nur Fahrer für neue Mobilitätsdienstleister wie Uber oder Fahrradkuriere für Essenslieferdienste wie Delivery Hero, sondern auch Texter, Designer oder Übersetzer. Das Problem: Die Kommission geht davon aus, dass 5,5 Millionen fälschlicherweise als Selbständige eingestuft werden. Rund 55 Prozent verdienen weniger als den Mindestlohn ihres jeweiligen Landes. Denn laut Kommission verbringen Crowdworker durchschnittlich 8,9 Stunden pro Woche mit unbezahlten Tätigkeiten wie Auftragssuche oder Warten auf den nächsten Arbeitseinsatz. Im Vergleich dazu sind 12,6 Stunden ihrer Arbeit bezahlt.

Beweislast obliegt Gig Economy

Deshalb zielt der Vorschlag von Margarethe Vestager, Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission darauf ab, der Scheinselbständigkeit durch eine Beweilastumkehr Einhalt zu bieten. Anhand fester Kriterien sollen die Behörden der Mitgliedsstaaten künftig einordnen können, ob Beschäftigte selbständig für eine Plattform arbeiten. Oder ob ihnen Arbeitnehmerrechte wie bezahlter Urlaub, geregelte Arbeitszeiten und Lohnfortzahlung bei Krankheit zustehen. Liegen zwei der fünf folgenden Kriterien vor, gilt die Plattform nach der vorgeschlagenen Richtlinie als Arbeitgeber und sie muss den freien Mitarbeiter anstellen:

  1. Die Plattform bestimmt die Höhe oder Obergrenze der Vergütung,
  2. überwacht die Arbeitsausführung elektronisch,
  3. gibt Kleidung und Verhalten beim Kontakt mit den Kunden vor.
  4. Der Plattform-Arbeiter kann nur bedingt frei entscheiden über Arbeits- und Abwesenheitszeiten.
  5. Und er kann auch nicht frei wählen, ob er die Aufgaben annimmt oder ablehnt oder an eigene Arbeitskräfte weitergibt.

Die Plattformen haben das Recht, diese Einstufung anzufechten oder zu widerlegen. Dafür müssen sie nachweisen, dass kein Beschäftigungsverhältnis besteht. Demgegenüber müssen bislang die Mitarbeiter*innen gegen die Plattform klagen, um als Arbeitnehmer*innen eingestuft zu werden.

Mensch muss Algorithmen überwachen

Auch die Transparenz der Algorithmen will die Kommission verbessern und so eine bessere Kontrolle der Auftragsvergabe sowie der Preise ermöglichen. Die Plattform-Arbeiter sollen wissen, wie ihre Arbeit getrackt und analysiert wird. Letztlich soll gewährleistet sein, dass der Mensch die automatisierten Entscheidungen überwacht.

Protest von Wirtschaftsverbänden und Plattformanbietern

Für den europäischen Wirtschaftsverband Business Europe, zu dessen Mitgliedern auch die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) oder der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) zählen, geht der Vorschlag an der Lebenswirklichkeit vorbei. Denn viele Plattform-Arbeiter wollten als Selbständige arbeiten. Generaldirektor Markus Beyrer sagt in einer Pressemitteilung: „Die vorgeschlagene Beschäftigungsvermutung dürfte eine abschreckende Wirkung auf die Möglichkeiten des Einzelnen haben, als Selbständiger tätig zu werden, und sich negativ auf die Erbringung von Dienstleitungen im Binnenmarkt auswirken.“

Plattformarbeiter schätzen Flexibilität

Laut einer im November letzten Jahres veröffentlichten Studie von Copenhagen Economics umfasste 2020 allein der Sektor Lieferdienste in Europa ein Volumen von 20 Milliarden Euro mit rund 375.000 aktiven Kurier*innen pro Woche. Bis zu 250.000 davon könnten der Umfrage zufolge kündigen, wenn die Gesetzgebung ihre Flexibilität einschränkt, vor allem mit Blick auf Arbeitszeiten und Zeitpläne. Denn für 72 Prozent der Befragten handelt es sich um einen Zusatzverdienst. Zwei Drittel sehen in der Flexibilität einen Hauptgrund für ihre Tätigkeit in der Branche. In Auftrag gegeben hat die Befragung Delivery Platforms Europe, ein Zusammenschluss von Plattformen wie Bolt, Deliveroo, Delivery Hero, Uber und Wolt. Sie plädieren dafür, dass die Regulierung den Kernprinzipien der Gig Economy nicht zuwider laufen sollte. Im November letzten Jahres zog sich der Lieferdienst Deliveroo bereits aus Spanien zurück infolge eines neuen Gesetzes, demzufolge mehr Kurier*innen einen Anspruch auf Festanstellung bekommen sollen.

Demgegenüber sehen Gewerkschaften wie der DGB in den EU-Plänen einen wichtigen Meilenstein, um die Rechte von vermeintlich Soloselbständigen zu wahren und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Wie wir in Teil 1 zum Thema Crowdworking berichtet haben, hat das Bundesarbeitsgericht bereits wichtige Grundsatzurteile über Arbeitnehmerstatus und notwendige Arbeitsmittel zugunsten von Crowdworkern gefällt.

Mehr Flexibilität für New and Old Economy schaffen

Die neue Bundesregierung will mit allen Beteiligten über die Arbeit per Mausklick reden und die Initiative der EU-Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf Plattformen „konstruktiv begleiten“. Dabei könnte ein Blick in andere Länder lohnen: Das Center for European Policy Analysis (Cepa), eine überparteiliche US-Denkfabrik, nennt Estland als positives Beispiel für eine konstruktive Regulierung, die unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten berücksichtigt. Estland hat als erstes europäisches Land Fahrgemeinschaften und das Teilen von Fahrdiensten im Rahmen des sogenannten Ride-sharing reguliert und legalisiert. Die neuen Mobilitätsangebote bekamen dieselbe gesetzliche Grundlage wie klassische Taxis. Verbunden sind damit Vorteile für beide Seiten, etwa mit Blick auf erforderliche Genehmigungen oder Qualitätsanforderungen. Die Ergebnisse sind positiv – und zwar für Wirtschaft, Regierung und Verbraucher. So sind die Steuereinnahmen gestiegen, die Wartezeiten gesunken und aus der estnischen Ride-hailing-Plattform Bolt wurde ein europäisches Einhorn, das weltweit aktiv ist.

Die Angebote von Plattformen und die Tätigkeiten der Crowdworker unterscheiden sich stark und reichen vom Essensliefer- und Fahrdienst über Texterstellung und Datenrecherche bis zu IT-Dienstleistungen. Von daher ist fraglich, ob der Vorschlag der EU-Kommission innovativen digitalen Geschäftsmodellen ausreichend Flexibilität lässt. Es drohen erneut Klagen vor den nationalen Arbeitsgerichten. Dieses Mal von Seiten der Plattformanbieter, die gegen die Einstufung ihrer Beschäftigten als Arbeitnehmer klagen. Die Kommission räumt zudem selbst ein, dass die Gig Economy für junge und schlecht ausgebildete Arbeitskräfte Chancen bietet, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Ziel der neuen Ampelregierung sollte sein, sowohl New als auch Old Economy mehr Flexibilität zu ermöglichen. Bis dahin zählt die Gefahr der Scheinselbständigkeit zu den Risikobereichen, die der Radar eines jeden HR-Compliance-Management-System erfassen muss.