Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Kündigung eines Whistleblowers rechtmäßig.

 Whistleblower müssen Verdachtstatsachen prüfen, bevor sie Informationen an Dritte (Polizei, Staatsanwaltschaft, Medien) weitergeben.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Kündigung eines Whistleblowers rechtmäßig.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat eine wichtige Entscheidung zum Whistleblowing getroffen. Demnach bewahrt auch das Recht auf freie Meinungsäußerung einen Arzt nicht vor einer fristlosen Kündigung.

Das Thema Whistleblowing ist aktuell: Whistleblower sollen durch einer EU-Richtlinie vor Repressalien geschützt werden, wenn sie Missstände aufzeigen. Sowohl unternehmensinterne als auch -externe Anlaufstellen sollen es Whistleblowern ermöglichen, Missstände zu melden. Die EU hat die „Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ im Oktober 2019 verabschiedet. Die Mitgliedsstaaten müssen die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren umsetzen. In Deutschland wird dazu zur Zeit an einem Gesetzesentwurf gearbeitet.

Dass Whistleblower dennoch vorsichtig sein und einen Verdacht gut begründen müssen, zeigt ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte (EGMR) vom 16. Februar 2021 – 23922/19. Der EGMR hat festgestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention eingeschränkt sein kann, wenn die Vorwürfe nicht gründlich geprüft wurden. Das führte im vorliegenden Streitfall dazu, dass die außerordentliche Kündigung eines Arztes rechtmäßig ist.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft

Konkret ging es um einen deutschen Arzt, der zuletzt als stellvertretender Chefarzt in einer Klinik in Liechtenstein beschäftigt war. Ihm war aufgefallen, dass sich die Fälle, in denen Patienten nach einer Morphingabe gestorben waren, häuften. Er vermutete aktive Sterbehilfe hinter den Fällen. Ohne sich zuvor intern um eine Klärung zu bemühen, zeigte er den behandelnden Chefarzt bei der liechtensteinischen Staatsanwaltschaft an.

Die Untersuchungen ergaben, dass der Verdacht der Tötung auf Verlangen unbegründet war. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Ein Ermittlungsverfahren gegen den Arzt wegen falscher Verdächtigung wurde ebenfalls eingestellt. Die fristlose Kündigung durch die Klinik erhielt er dennoch.

Arzt zieht bis vor dem EGMR

Der Arzt wehrte sich gegen die Kündigung und zog bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er sah sich in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.

Der EGMR hält die Kündigung für rechtmäßig, Der Arzt habe den Verdacht einer schweren Straftat durch seinen Chefarzt direkt bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, ohne die Anhaltspunkte für den schwerwiegenden Verdacht vorher gründlich zu prüfen. Weiterhin habe er nicht festgestellt, ob seine Informationen zutreffend und zuverlässig waren. Dies habe erhebliche Auswirkungen auf den Ruf der Klinik und des Chefarztes gehabt. Die Kündigung sei daher verhältnismäßig, so der Gerichtshof.

Eingriff in Meinungsfreiheit verhältnismäßig

Auch sei der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Arztes verhältnismäßig gewesen. Der Arzt habe zwar keine unlauteren Motive gehabt. Er habe die schwerwiegenden Vorwürfe intern genauer und sorgfältiger prüfen können und habe dies versäumt.

Der EGMR prüft den Schutz von Whistleblowern nach einem 6-Punkte-Schema. Dabei geht er davon aus, dass Whistleblower grundsätzlich zuerst versuchen müssen, interne Abhilfe für den Mißstand zu schaffen. Erst als letzter Ausweg (last resort) soll die Weitergabe von Informationen an Dritte zulässig sein. Ob es in Deutschland nach Umsetzung der EU-Vorgaben zu einem ähnlichen Urteil gekommen wäre, ist offen. Whistleblower müssen ihren Verdacht auf jeden Fall gründlich prüfen und sich klar darüber sein: ein unbegründer Verdacht kann das Ende des Arbeitsverhältnisses bedeuten.