Das Urlaubsrecht birgt Tücken für Arbeitgeber. So streiten Arbeitgeber und Beschäftigte vor Gericht häufig über Abgeltungsansprüche für nicht genommenen Urlaub. Laut ständiger Rechtsprechung verfällt der Anspruch auf freie Tage gemäß § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz nicht automatisch am 31.12. beziehungsweise am 31.03. des Folgejahres. Vielmehr haben Arbeitgebende laut Europäischem Gerichtshof eine Mitwirkungspflicht. Sie müssen darauf hinweisen, dass ein Verfall droht und den Arbeitnehmer dazu anhalten, den Resturlaub in Anspruch zu nehmen (C-619/16 und C-684/16).
Hinweispflicht des Arbeitgebers
Im Falle einer Langzeiterkrankung gilt laut Bundesarbeitsgericht grundsätzlich: Der Anspruch auf freie Tage verfällt generell erst 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres. Wer also im Jahr 2022 erkrankt und deshalb auf freie Tage verzichtet, kann seinen Anspruch nach Ablauf des 31.03.2024 nicht mehr geltend machen.
Arbeitsunfähigkeit über viele Jahre
Aber was gilt, wenn Beschäftigte mehr als 15 Monate dauerhaft arbeitsunfähig sind und somit ohnehin nicht freinehmen können? Diese Frage entschied nun das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm: Geklagt hatte ein Mitarbeiter einer Gebäudereinigung, der wegen einer schweren Nervenschädigung an der Hand und einer Verkrümmung mehrerer Finger seit 2010 arbeitsunfähig war. Nachdem das Arbeitsverhältnis zwischenzeitlich beendet wurde, forderte der Kläger Abgeltung von je 30 Urlaubstagen für die Jahre 2016 und 2017. Er sei durchgängig arbeitsunfähig gewesen. Der Beklagte sei seiner Pflicht nicht nachgekommen, auf den drohenden Verfall des Urlaubs für die Jahre 2016 und 2017 hinzuweisen.
LAG Hamm: Befristung des Urlaubsanspruchs hängt nicht von Hinweispflicht ab, wenn Inanspruchnahme objektiv unmöglich
Die Richter des LAG Hamm waren anderer Auffassung: Zwar bestünden Mitwirkungspflichten auch während einer langandauernden Erkrankung, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Es komme in diesem Fall jedoch nicht darauf an, ob der Arbeitgeber seine Mitwirkungspflicht erfüllt habe, da der Kläger dauerhaft arbeitsunfähig war. Dadurch sei er gar nicht in der Lage gewesen, den Urlaub durch Freistellung „in natura“ zu ermöglichen. Die Hinweispflicht diene ausschließlich dazu, dass der Arbeitnehmer tatsächlich seinen Urlaubsanspruch verwirklichen könne, so die Richter. Dagegen bestehe keine Verpflichtung, dem Arbeitnehmer einen Abgeltungsanspruch zu ermöglichen.
BAG: Keine Hinweispflicht nach dem ersten Jahr, wenn Arbeitnehmer ohnehin ganzjährig krank sind
Allerdings ließ das LAG Hamm die Revision zum Bundesarbeitsgericht zu, mit der Begründung: Bei der Frage der Auswirkungen einer fehlenden Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers im Falle mehrjähriger Erkrankung des Arbeitnehmers handele es sich um eine noch nicht durch das BAG entschiedene Frage. Dabei haben die obersten Arbeitsrichter in Erfurt am 07.09.2021 dazu bereits ein Urteil gesprochen: Sie legten dar, dass der Urlaubsanspruch des Klägers erloschen sei, obwohl der beklagte Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Kausal für die fehlende Möglichkeit, Urlaub zu nehmen, sei allein die langandauernde Krankheit des Klägers gewesen und nicht die unterlassene Mitwirkung des Beklagten. Das gelte immer dann,
- wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig war.
- Oder wenn die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres eintritt, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn (weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können.
Fest steht nun jedenfalls: Hinweispflichten sind nur noch fraglich im ersten Jahr einer langanhaltenden Krankheit – nämlich bezüglich bisher nicht erfüllter Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahrs arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr (zumindest teilweise) noch hätte nehmen können. Danach laut BAG nicht mehr. Das schreibt auch das LAG Hamm: In der Urteilsbegründung beziehen sich die Richter auf den Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 07.07.2020: Dieser betreffe explizit die Frage, wie sich eine fehlende Mitwirkung auswirkt, wenn die Arbeitsunfähigkeit während eines Urlaubsjahres eintritt.
Das Urlaubsrecht birgt viele Untiefen für HR. Wie sich diese umgehen lassen, beschreiben wir in unserem Blog-Beitrag „Urlaubsrecht: 9 häufige Fragen und Antworten zur schönsten Zeit des Jahres“. Infolge der Rechtsprechung des LAG Hamm und des BAG können Personalverantwortliche nun zumindest nicht mehr mit Abgeltungsansprüchen konfrontiert werden, die sich über mehrere Krankheitsjahre der Krankheit angesammelt haben. Etwaige Hinweispflichten sind nun nur noch fraglich im ersten Jahr einer langanhaltenden Krankheit. Nichtsdestotrotz sollten Personalverantwortliche die nationale und europäische Rechtsprechung zum Urlaubsrecht aufmerksam verfolgen. Das gilt beispielsweise auch für die Entscheidung des EuGH über den Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts: Laut den Schlussanträgen von Generalanwalt Jean Richard de la Tour vom 17.03.2022 sind Ausnahmen von der Hinweispflicht streng auszulegen.