1. Erweiterter Produktbegriff
Die Richtlinie definiert den „Produktbegriff“ deutlich breiter:
- Neben die bisherige Produktdefinition „bewegbare Sachen“ treten Elektrizität, digitale Konstruktionsunterlagen, Rohstoffe und – zentral – Software, inklusive KI-Systemen als „Produkte“ im Sinne der Richtlinie.
- Ausgenommen bleibt nur nicht kommerzielle Open Source Software.
- Produkte, die durch digitale Dienste unterstützt oder gesteuert werden („connected services“), zählen ebenfalls als Produkte.
Diese Anpassung reagiert auf die zunehmende Digitalisierung und IoT-Entwicklung: Hersteller von Apps, Software Tools oder smarten Geräten werden zukünftig denselben Haftungsregeln unterliegen wie klassische Industriehersteller.
2. Wer haftet? – Erweiterung der Wirtschaftsakteure
Bisher stark auf Hersteller, Importeure und Händler fokussiert, schreibt die neue Richtlinie eine deutliche Ausweitung der mit einer potenziellen Haftung konfrontierten Unternehmen vor:
- Hersteller und sog. Quasi Hersteller (z. B. infolge Markenaufdrucks).
- Importeur (bei Herstellern außerhalb der EU).
- Bevollmächtigter, wenn es keinen Importeur gibt.
- Fulfilment Dienstleister, die Lagerung, Verpackung oder Versand übernehmen, sofern keinen anderen innerhalb der EU Verantwortlichen gibt.
- Online-Plattformen oder -Lieferanten haften subsidiär, wenn die anderen Akteure keine EU Niederlassung haben.
So trägt potenziell jeder Beteiligte entlang der Lieferkette Verantwortung. Hierdurch wird der haftungsrechtliche Rahmen deutlich erweitert.
3. Beweislage und Beweislast
Ein zentrales Anliegen der Richtlinie war, den Zugang für Geschädigte zu Schadensersatz zu erleichtern. Dafür enthält sie zwei wichtige Änderungen:
- Offenlegungspflicht: Gerichte können nun Akteure verpflichten, bestimmte Informationen oder Dokumente zur Herstellung, Prüfung oder Sicherheit offen zu legen. Dies geht in die Richtung der aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum bekannten „Disclosure“.
- Beweisregeln: Die Beweislast für Fehler, Schaden und Kausalität bleibt beim Kläger, wird jedoch durch erleichtert, weil sich die Beweislast umkehrt, wenn der Geschädigte einen Produktfehler zumindest plausibel gemacht hat.
4. Rechtliche Verschärfung bei Fehlerbegriff, Cybersecurity & Haftungsausschlüssen
- Fehlerbegriff: Ein Produkt gilt als fehlerhaft, wenn es nicht die vom Käufer berechtigterweise zu erwartende Sicherheit aufweist – auch im Hinblick auf Lernfähigkeit von KI, Rückrufe oder Schnittstellen zu anderen Produkten.
- Cybersecurity: Hersteller haften ausdrücklich für Schäden durch Sicherheitslücken; Updates oder fehlende Patches werden zu Haftungsfaktoren.
Deutschland wird die Richtlinie voraussichtlich durch eine umfassende Novelle des Produkthaftungsgesetzes (ProdHaftG) umsetzen – flankiert von Änderungen in der Zivilprozessordnung, um die neuen Beweis und Offenlegungspflichten abzubilden. Gerade die Frage, wie die disclosure-ähnlichen Verpflichtungen im Zivilprozessrecht umgesetzt werden, bleibt spannend.
Fazit
Die EU Richtlinie 2024/2853 stellt einen Paradigmenwechsel dar: Neben physischen Waren umfasst sie nun auch softwarebasierte Produkte und KI, die Haftung greift weiter entlang digitaler Lieferketten, abgesichert durch umfangreiche Beweis- und Offenlegungsrechte für die Geschädigten. Ziel ist ein moderner, einheitlicher Verbraucherschutz im digitalen Zeitalter. Für Deutschland bedeutet dies tiefgreifende Reformen – mit nationaler Umsetzungspflicht bis 9. Dezember 2026. Die verbleibende Zeit sollten die mit der Herstellung und dem Vertrieb von Produkten befassten Akteure aber für eine rechtzeitige Anpassung an die neuen Regeln nutzen.
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