Bundesverfassungsgericht: BAG beachtet Tarifautonomie nicht

 Warum das Bundesarbeitsgericht beim Thema Tarifautonomie bei Coca-Cola „nachsitzen“ muss

Wanduhr mit silbernem Rahmen zeigt 9 Uhr, aufgenommen in einem Innenraum mit Deckenbeleuchtung.

In mehreren Fällen urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) zu Klagen gegen Coca-Cola. In zwei dieser Fälle muss das BAG nun noch einmal „ran“: Das Gericht habe die Tarifautonomie nicht ausreichend berücksichtigt, urteilte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Urteil v. 11.12.2024, Az.: 1 BvR 1109/21).

Verfahren über Nachtschichtzuschläge

Aber wie kam es zu den diversen arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Coca-Cola und seinen Mitarbeitern? Laut Manteltarifvertrag der „Erfrischungsgetränke-Industrie Berlin und Region Ost“ wird bei Coca-Cola für regelmäßige Arbeit in Nachtschichten ein Zuschlag von 25 % bezahlt, für unregelmäßige Nachtarbeit ein Zuschlag von 50 %.

Zwei Gründe sprechen für eine „Ungleichbehandlung“: Einerseits sei die Belastung durch unregelmäßige Nachtarbeit für die Mitarbeiter höher, weil sie nicht planbar sei. Andererseits bekämen die Mitarbeiter im regelmäßigen Nachtschichtsystem zusätzlich Ausgleich z. B. in Form von freien Tagen.

Gegen die Benachteiligung bei der Vergütung der Nachtarbeit klagten Mitarbeiter, die in regelmäßiger Nachtschicht weniger Zuschlag erhielten.

In zwei Fällen bekamen sie vor dem Bundesarbeitsgericht Recht: Die Regelung im Tarifvertrag verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Außerdem verurteilte das BAG Coca-Cola in beiden Fällen dazu, rückwirkend für Gleichheit in der Bezahlung von Nachtzuschlägen zu sorgen. (BAG, Urteil v. 09.12. 2020 Az.: 10 AZR 335/20 und Urteil v. 22.03.2023 Az.: 10 AZR 600/20)

Erstaunlich erscheint das, da das BAG im Februar 2023 ein Urteil in einem anderen, gleich gelagerten „Coca-Cola-Fall“ gefällt hatte, in dem diese Ungleichbehandlung als gerechtfertigt beurteilt wurde (BAG, 22.03.2023, 10 AZR 332/20).

Dazu mehr in unserem Beitrag „Unterschiedliche Nachtzuschläge: BAG sieht kein Problem“.

Verfassungsbeschwerde gegen BAG-Urteile

Insofern erscheint es folgerichtig, dass Coca-Cola Verfassungsbeschwerde gegen diese beiden Urteile des BAG erhob – und das mit Erfolg.

Das BVerfG verwies in beiden Fällen die Sache zurück an das BAG, das nun neu entscheiden muss.

Warum?

Einerseits sei die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Nachtzuschlägen nicht willkürlich, ebenso nicht die entsprechende tarifliche Regelung, die damit nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

Nur in Hinblick darauf hätte das BAG die Regelung allerdings prüfen dürfen. Zitat:

Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe nicht erkennbar sind, ist die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Spielräume der Tarifvertragsparteien auf eine Willkürkontrolle beschränkt.

Andererseits habe das Gericht keine Entscheidungskompetenz hinsichtlich der tarifvertraglich vereinbarten Rechtsfolgen. Wie die Tarifparteien konkrete Inhalte und deren Rechtsfolgen regeln würden, bleibe aufgrund der Tarifautonomie – und im Rahmen anderer grundgesetzlicher Vorgaben – den Tarifparteien überlassen. Zitat:

Bei der Bestimmung der Rechtsfolgen gleichheitswidriger Tarifnormen müssen die Gerichte die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien und insbesondere deren Spielräume in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beachten.

Hält sich eine tarifvertragliche Regelung an grundgesetzliche Rahmenbedingungen und ist eine Ungleichbehandlung in der Entlohnung sachlich gerechtfertigt, haben Gerichte keine Kompetenz, die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen (= ungleiche Bezahlung) infrage zu stellen.

Denn:

Die „Rechtsfolgenbestimmung im Individualprozess [ist] im Ausgangspunkt den Tarifpartnern als ursprünglichen Normgebern zu überlassen“.

Was bedeutet dieses Urteil?

Das BVerfG hat mit diesem Urteil die Tarifautonomie gestärkt, indem es das BAG deutlich in die Schranken seiner Entscheidungskompetenz wies. Erfreulich!

Was wir für Sie tun können

Sie haben Fragen zum Thema? Sprechen Sie uns gerne an!

Das Wichtigste kurz zusammengefasst:

  • Ungleiche Bezahlung ungleicher Arbeit kann im Einklang mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in einem Tarifvertrag geregelt werden.
  • Das Bundesarbeitsgericht ist darauf beschränkt, tarifvertragliche Regelungen auf Verstöße gegen das Willkürverbot zu prüfen.
  • Das Bundesarbeitsgericht ist außerdem nicht befugt, in die Rechtsfolgenkompetenz der Tarifparteien einzugreifen. Andernfalls verletzt es deren Tarifautonomie.