Die Massenentlassung – eine unendliche Geschichte.

 Sind Zeitarbeitnehmer beim Schwellenwert nach § 17 Abs. 1 KSchG mitzuzählen? (BAG, Vorlage v. 16.11.2017 – 2 AZR 90/17 (A)).

Die Massenentlassung - eine unendliche Geschichte, Insight von Dr. Jan-Tibor Lelley, Rechtsanwalt der Kanzlei Buse Heberer Fromm

Die Bühne des Dramas, das unter dem Titel rechtswirksame Massenentlassung bei vielen Arbeitsgerichten schon jahrelang auf dem Spielplan steht, wird nun von einem neuen Statisten betreten: die/der Zeitarbeitnehmer(in). Dabei geht es um Folgendes:

Die Beklagte betrieb Berufskollegs. Die Klägerin war ursprünglich bei der Beklagten beschäftigt, bis ihr am 24.11.2014 gekündigt wurde. In der Zeit vom 24.11.2014 bis zum 24.12.2014 erklärte die Beklagte noch elf weitere Kündigungen. Eine Massenentlassungsanzeige erfolgte nicht. Im Rahmen einer Kündigungsschutzklage machte die Klägerin jedoch geltend, es habe eine meldepflichtige Massenentlassung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG vorgelegen. Die zu diesem Zeitpunkt im Betrieb beschäftigten vier Leiharbeitnehmer könnten bei der Berechnung der Zahl der regelmäßigen Mitarbeiter keine Berücksichtigung finden. Dadurch seien im laufenden Schuljahr bei der Beklagten regelmäßig weniger als 120 Mitarbeiter beschäftigt gewesen. Mit dem Ausspruch der zwölf Kündigungen innerhalb eines Monats habe die Beklagte demnach jedenfalls 10 % der in ihrem Betrieb in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer entlassen.

Das Arbeitsgericht Essen hatte zunächst der Beklagten Recht gegeben und die Zeitarbeitnehmer mitgezählt. Das LAG Düsseldorf hatte als Berufungsinstanz hingegen angenommen, dass Zeitarbeitnehmer bei der regelmäßigen Beschäftigtenzahl nicht zu berücksichtigen seien. Dabei erwähnte das LAG die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG nur kurz. Es führte diesbezüglich lediglich aus, dass Zweck der Richtlinie unter anderem sei, den individualrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer zu wahren. Da der Arbeitsvertrag der Leiharbeitnehmer mit dem Verleiher durch die Massenentlassung jedoch nicht zwingend beendet würde, greife der individualrechtliche Schutzzweck vorliegend nicht. Die Richtlinie stehe auch einer Nichtbeachtung der Leiharbeitnehmer aufgrund des betriebsverfassungsrechtlichen Schutzzwecks nicht entgegen.

Das BAG entschied sich anschließend, dem EuGH die Problematik nach Art. 267 AEUV vorzulegen. Dabei stellte es zunächst die Frage, ob zur Bestimmung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl auf den Zeitpunkt der Entlassung abzustellen sei. Des Weiteren fragte es nach der Einbeziehung der im Betrieb tätigen Leiharbeitnehmer in die Berechnung der Anzahl regelmäßiger Mitarbeiter. Schließlich erkundigte es sich nach den eventuellen Voraussetzungen für eine diesbezügliche Berücksichtigung der Leiharbeitnehmer.

Empfehlungen für die Praxis:

Trotz zahlreicher Entscheidungen des BAG sind Massenentlassungsanzeigen und Konsultationsverfahren nach § 17 KSchG immer noch sehr unsicher und für Unternehmen risikoreich. Fehler können hier schnell zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigung führen (§ 134 BGB). Der Vorlagebeschluss des BAG macht das nicht besser.

Bislang war ungeklärt, ob Zeitarbeitnehmer bei der Bestimmung der Schwellenwerte zu berücksichtigen sind. Das ist aber entscheidend für die Frage, ob Unternehmen in Restrukturierungssituationen eine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen oder nicht. Das BAG hat zwar kürzlich noch entschieden, dass Zeitarbeitnehmer bei der Bestimmung der Betriebsgröße nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG mitzuzählen sind (BAG, Urt. v. 24.01.2013 – 2 AZR 140/12). Begründet wurde das mit der Überlegung, dass zur Berechnung des Schwellenwerts nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG sämtliche für den Betriebsinhaber weisungsgebunden tätigen und in den Betrieb eingegliederten Arbeitnehmer mitzuzählen seien, soweit mit diesen ein regelmäßiger Beschäftigungsbedarf abgedeckt werde. Ob diese Rechtsprechung jedoch auf § 17 KSchG zu übertragen ist, scheint – vor allem vor dem europäischen Hintergrund – fraglich.

Der EuGH hat die Frage ebenfalls noch nicht beantwortet. Er hat aber bereits ausgeführt, dass etwa Arbeitnehmer mit einem für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossenen Vertrag zu den Arbeitnehmern gehören, die im Sinne dieser Bestimmung „in der Regel“ im betreffenden Betrieb beschäftigt sind. Darüber hinaus sei für die Berechnung der Beschäftigtenzahl eines Betriebs die Natur des Arbeitsverhältnisses ohne Bedeutung. Die Begriffe, die den Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59/EG festlegen, seien auch nicht eng auszulegen. Der Unionsgesetzgeber wolle den Arbeitgebern keine im Verhältnis zur Größe ihres Betriebs übermäßige Belastung auferlegen. Eine Einbeziehung der Leiharbeitnehmer in die Berechnung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl liegt demnach europarechtlich relativ nahe. Bis eine Entscheidung des EuGH ergeht, bleibt die Rechtslage jedoch vollständig offen.

Gut beratene Unternehmen werden daher bei Zweifelsfällen eine Massenentlassungsanzeige erstatten, denn eine überflüssige Anzeige kann nie die Kündigungen gefährden.